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Longform-Journalismus: Fast alles ist erlaubt

Annäherung an ein Format

Journalismus hat immer auch mit Normen, Begrenzungen und Formaten zu tun. Im Netz setzt sich allerdings zunehmend eine Spielart durch, bei der dies alles keine Rolle mehr spielt. Hier gilt nur eine Regel: Hauptsache kreativ, Hauptsache multimedial.

Streng genommen dürfte es das, wovon in den kommenden vielen Sätzen die Rede sein wird, gar nicht geben. Was sich im Übrigen auch daran zeigt, dass es für den „Longform-Journalismus“, um den es hier geht, noch eine ganze Reihe anderer Namen gibt (der Einfachheit halber aber bleiben wir jetzt bei „Longform“).

Nicht geben dürfte es diese Art des Journalismus, wenn man den gerne geäußerten Auffassungen folgt, die über den Journalismus, insbesondere über den im Netz, kursieren: Ist demnach nicht Kürze das mittlerweile alles entscheidende Kriterium? Werden nicht inzwischen Videos auf 15 Sekunden heruntergebrochen und hat nicht beispielsweise ein Dienst wie Twitter ganz bewusst eine Beschränkung auf 140 Zeichen?

Trotzdem: Es gibt diesen Longform-Journalismus im Netz – und sein Name ist tatsächlich Programm. Weil Länge und Ausführlichkeit hier ganz bewusst gewollt sind. Und weil es keine Normen gibt, die dieser Ausführlichkeit Grenzen setzen. Schon alleine deshalb gehören Longform-Stücke zu den Exoten in der Branche. Schließlich gibt es vermutlich keinen Journalisten, der nicht regelmäßig mit Platz- oder Zeitbeschränkungen zu tun hat.

Bei den digitalen Longform-Formaten gilt dagegen vor allem eines: no rules! (Zugegeben: fast keine. Mehr dazu im Verlauf dieses Textes.) Sicher aber ist, dass man sich quantitativ keine Gedanken machen muss. Man darf so viel schreiben, drehen, vertonen und animieren, wie es für das Verständnis des Themas nötig ist. Aber Vorsicht vor zu viel Euphorie: Das richtige Maß, die richtige Struktur und die richtigen Darstellungsformen zu finden, ist sehr viel komplexer, als man sich das vielleicht vorstellt.

Die wichtigsten Kriterien

Was also macht ein Stück aus, damit man es in die Kategorie des Longform-Journalismus stecken darf? Nur die schiere Länge alleine ist natürlich noch nicht entscheidend. Man kann auch fürchterlich lange Texte schreiben, die keinen echten Wert bieten.

Longform bedeutet zunächst einmal, dass es sich dabei um ein Thema handelt, das als Hintergrund, Analyse oder Reportage daherkommt. Das ist übrigens auch der Grund, warum streng genommen der gerne verwendete Begriff „Multimedia-Reportage“ falsch ist – es muss sich dabei keineswegs um eine Reportage handeln.

Richtig an der Bezeichnung ist allerdings, dass er den Begriff „Multimedia“ beinhaltet.

Tatsächlich gehört zur Longform unbedingt, dass das Stück multimediale Elemente enthält. Dabei gilt auch hier: Wie viele von welchen Elementen wo enthalten sein sollen, ist nirgendwo definiert. Das bietet unendlich viele Freiheiten, aber leider keinerlei greifbare Anhaltspunkte, was richtig oder falsch sein könnte – sofern man dabei überhaupt von solchen Begrifflichkeiten sprechen kann.

Denkbar und auch schon verwendet wurden Videos, Audios, Animationen, Grafiken, datenjournalistische Anwendungen. Sowie eigentlich auch alles andere, was sich im digitalen Journalismus darstellen lässt.

Multimedia – aber wie?

Bei dieser Menge an Möglichkeiten hat man es anfangs mit einem ziemlich großen Puzzle zu tun, bestehend aus sehr vielen Einzelteilen, die man irgendwie zu einem ansehnlichen Bild zusammensetzen muss.

Dabei kann man sich theoretisch darauf verlassen, dass man auf gut Glück schon irgendetwas hinbekommt. Das ist allerdings, man ahnt es, nur die zweitbeste Idee.

Deutlich besser ist es, sich schon vor der eigentlichen Produktion ein Storyboard zusammenzustellen. Ein derart aufwendiges Format wie die Longform ist anders kaum zu bewältigen. De facto erfordert kein anderes Format eine derart intensive Planung. Was aber wenigstens den Vorteil bietet, dass man sich dabei auch schon Gedanken machen muss, welche multimedialen Elemente man einsetzt.

Die Beliebigkeitsfalle ist hier enorm groß. Natürlich kann man theoretisch alles auch in ein Video packen und etliche Audios aufnehmen und das alles dann quer über den Text verteilen. Um strukturiert arbeiten zu können, sollte man sich ein paar Fragen stellen, bevor man mit der Multimedia-Produktion beginnt. Die erste und wichtigste bei jedem Puzzle-Teil lautet:

Welche Funktion soll dieses Element überhaupt haben? Was sagt es aus, was bringt es dem Nutzer?

Wenn man darauf keine wirklich gute Antwort findet, dann sollte man dieses Element weglassen.

Aber natürlich stehen ein paar andere Fragen dann auch noch im Raum, speziell bei Videos. Gibt es für sie überhaupt geeignete Protagonisten, bekommt man halbwegs vernünftige Bilder?

Potenzieller weiterer Stolperstein beim Thema Multimedia: die Beiträge so zu produzieren und anzuordnen, dass sie Mehr-Wert bieten, ohne dabei für das Verständnis des Textes dringend notwendig zu sein. Man darf nicht erwarten, dass ein User erst einen Text liest, sich dann beispielsweise ein Interview anhört, dass er zum weiteren Verständnis dringend braucht, und dann wieder weiterliest. Auf der anderen Seite: Redundant sollten die multimedialen Elemente natürlich auch nicht sein. Auch hier zeigt sich also: Zuviel Wahl kann tatsächlich zur Qual werden.

Das Handwerkszeug

Quälend kann es auch sein, wenn man sich plötzlich mit allerlei Handwerkszeug auseinanderzusetzen hat, das man wenig oder gar nicht beherrscht. Und wer beherrscht schon Video, Audio, Text, Fotografie, Animation und Datenjournalismus gleichermaßen gut?

Bestandteil einer vernünftigen Planung sollte es demnach also auch sein, dass man zu sich selbst ehrlich ist: Was kann ich, was kann ich nicht? Etwas nicht zu können, ist nicht weiter tragisch. Wenn man sich die Credits von verschiedenen Produktionen ansieht, stellt man sehr schnell fest, dass an den meisten, den wirklich guten Longform-Stücken immer eine ganze Reihe von Leuten beteiligt ist.

Natürlich bedeutet das nicht, dass man sich nicht auch mal als Einzelkämpfer versuchen kann. Theoretisch geht das, zumal inzwischen Software wie „Creatavist“ oder „Pageflow“ es ermöglicht, auch völlig ohne Programmierkenntnisse sehr ansehnliche Stücke zusammenzubekommen.

Trotzdem: Longform bedeutet im Regelfall immer Teamwork. Das zeigt sich vor allem dann, wenn man einen Blick auf Beispiele aus der Praxis wirft. Bei den wirklich großen, umfangreichen und guten Stücken sind immer mindestens zwei bis drei Menschen beteiligt, in einigen Fällen auch sehr viel mehr.

Beispiele aus der Praxis

Die inzwischen mehrfach preisgekrönte Reportage „Schwarzer Tod“ von Isabelle Buckow und Christan Werner gehört dabei zu den wenigen Fällen, bei denen zwei Journalisten und ein für die Technik zuständiger Kollege ausreichten, um ein wirklich bemerkenswertes Stück zu produzieren. Was allerdings auch daran lag, dass die Aufgabenverteilung zwischen den beiden und auch die Wahl der Mittel eindeutig war: Isabelle Buckow schrieb den Text, Christian Werner machte Bilder und Videos. Auf alles andere verzichtete das Duo – vermutlich auch deswegen, weil es schlichtweg nicht nötig war.

Apropos Verzicht: Diese Geschichte lebt nicht nur von ihrem ungewöhnlichen Thema und der ausgezeichneten Umsetzung, sondern eben auch davon, dass die Autoren ganz gezielt multimediale Elemente einsetzen und der Versuchung widerstehen, überflüssige Spielereien einzubauen. Was zeigt: Am Ende kommt es auch bei der Longform auf das Was und das Wie an – und nicht auf die Menge.

Exakt das hat auch die Redaktion von „Süddeutsche.de“ nach den Anschlägen von Paris im November 2015 gezeigt. In ihrem Feature „Stadt der Angst“ dokumentiert sie präzise den Ablauf der Terrrornacht sowie den darauffolgenden Zugriff der französischen Polizei auf die Täter. Genau genommen handelt es sich dabei um ein enorm langes, dokumentarisches Textstück, das ergänzt wird mit Animationen, die auf „Google Earth“ basieren und zeigen, wo sich welche eben beschriebene Stelle in Paris befindet. Kurze 30-Sekünder, in schwarz-weiß und bewusst unspektakulär gehalten.

Sind solche aufwendigen Stücke nur für große, gut ausgestattete Redaktionen denkbar? Keineswegs, wie dieses Beispiel aus den Dortmunder „Ruhr-Nachrichten“ zeigt. Die dortige Lokalredaktion hat eine Geschichte über einen Ölfund auf einem landwirtschaftlichen Anwesen im Ruhrpott mit Videos und Karten umgesetzt – und damit gezeigt: Vieles beim Thema Longform hat eben doch mit guter Planung und der Fähigkeit zu tun, in multimedialen Strukturen zu denken.

Und die Zukunftsaussichten?

Passiert künftig also vieles nur noch in der multimedialen Longform? Man hätte nach dem Hype der letzten beiden Jahre leicht auf diese Idee kommen können. Tatsächlich hat sich das Format inzwischen auch etabliert – was, siehe den Beginn dieses Textes, so nicht zu erwarten war.

Realistisch betrachtet allerdings ist es mit der Longform im Netz ähnlich wie mit der Reportage in der Zeitung oder der Dokumentation im TV: Sie sind eine wunderbare Option für das ausführliche Erzählen großer und umfangreicher Geschichten. Sie werden ihren festen Platz in der Palette des Geschichtenerzählens einnehmen.

Man kann ja trotzdem zwischendurch auch mal was anderes lesen …

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

Foto: Heike Rost

Foto: Heike Rost

Der Autor Christian Jakubetz ist freier Journalist, Berater für digitale Kommunikation (www.jakubetz-laban.de), Buchautor (www.universal-code.de) und Blogger (www.jakblog.de, blog.br24.de). Er arbeitete u. a. für das ZDF, den BR, ProSiebenSAT1, N24 sowie für das Magazin „Cicero“ und die FAZ.

Kommentare
  1. Berd V. sagt:

    Passend dazu ein Interview mit einem „Team“ vom Weser Kurier. Eine Autorin. eine Fotografin, ein (starker) Protagonist, ein technischer Umsetzer. Selten gut.
    http://pageflow.tumblr.com/post/140076002423/draussen