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Korrupte Journalistin, Kommissar mit Altlasten – Schwedenkrimi mit ungleichem Ermittler-Duo

Rezension zu „Sommersonnenwende“.

Der Kriminalroman „Sommersonnenwende“ von Pascal Engman und Johannes Selåker überzeugt mit zwei starken Ermittelnden und thematisiert Fremdenfeindlichkeit und Korruption im Journalismus. Ein spannender Serienauftakt, bei dem die Faszination weniger vom Gejagten als vom Ermittler-Duo ausgeht: einem Kriminalkommissar mit Blackouts und einer unsauber arbeitenden Journalistin.

Schweden, 6. Juni 1994. Kriminalkommissar Tomas Wolf ist auf dem Weg zu seinem älteren Bruder Kristian, um einen an diesen verliehenen Geldbetrag zurückzuverlangen. Als er während der Fahrt eine Polizeiabsperrung entdeckt, hält er an: Eine Tote wurde entdeckt. Doch auf die Frage eines Kollegen, ob er sich die übel zugerichtete Frauenleiche nicht ansehen wolle, schüttelt er den Kopf … Wolf ist erst kürzlich aus Bosnien zurückgekehrt, wo er als UN-Soldat stationiert war. Immer wieder suchen ihn verstörende Blackouts heim, unten denen vor allem seine Frau Klara und die beiden gemeinsamen Kinder zu leiden haben. Dies sind jedoch nicht seine einzigen Probleme. Der Ex-Skinhead konnte sich zwar aus dem Sumpf von Gewalt und Fremdenhass befreien, doch alle Geister der Vergangenheit hat der Kommissar noch nicht abschütteln können.

Die Journalistin Vera Berg, die zweite Hauptfigur der mit „Sommersonnenwende“ gestarteten Krimireihe der Autoren Pascal Engman und Johannes Selåker, ist nicht weniger vom Leben gezeichnet. Sie ist auf der Flucht vor ihrem kriminellen Ex-Freund Jonny und hat dessen Sohn Sigge unrechtmäßig mitgenommen. Nach einem Jobwechsel liegt nun der erste Tag als überregionale Reporterin bei der Stockholmer Zeitung Kvällsposten, einem der bekanntesten Boulevard-Blätter Schwedens, vor ihr. Doch mit einem zappeligen Sechsjährigen im Schlepptau gestalten sich die Arbeit in der Redaktion ebenso wie die Rechercheinterviews mit Polizisten und Hauptverdächtigen schwierig. Obendrein ist der Druck, der auf der Journalistin lastet, enorm: Der neue Job ist ihre letzte Chance, das macht ihre Chefin Anita Alsén mehr als deutlich. Denn Vera hat sich am letzten Arbeitsplatz einiges zuschulden kommen lassen …

Das Autoren-Duo lässt sich viel Zeit, um die Ermittelnden vorzustellen, während parallel dazu der Spannungsbogen mit dem Fund der ersten Leiche, einer vergewaltigten und erdrosselten Migrantin, aufgebaut wird. Auch das nächste Mordopfer hat Migrationshintergrund. Der Tatort befindet sich in der Nähe einer Flüchtlingsunterkunft. Die Taten erscheinen zunächst zusammenhanglos, doch bald wird ein rassistisches Motiv deutlich. Dies führt Wolf zurück in seine rechtsradikale Vergangenheit und sogar seine beiden Brüder tauchen im Rahmen der Ermittlungen auf. Doch auch ein bekannter Schauspieler macht sich verdächtig.

Realer Journalismus und lebensechte Hauptfiguren

Die schwedischen Autoren Engman und Selåker haben als Journalisten gearbeitet, beide auch bei der Zeitung Expressen, wo Selåker als Nachrichtenleiter und Chefredakteur tätig war. Auf der Webseite der Autorenagentur Nordin Agency erzählen sie von den Anfängen: „Wir sprachen über diese Geschichte in späten Nächten, als wir Mitte 20 waren, zusammen bei Expressen arbeiteten und davon träumten, unsere eigenen Bücher zu schreiben (…).“ Dies mag auch ein Grund dafür sein, dass die Figur Vera Berg in einer real existierenden Zeitung arbeitet. Denn die im Krimi positionierte Kvällsposten ist eine Regionalzeitung, die zum schwedischen Boulevard-Blatt Expressen gehört – das nicht nur Hofberichterstattung betreibt, sondern neben Medien wie Süddeutsche Zeitung, NDR und WDR auch an den Recherchen zum Nord-Stream-Anschlag von 2022 beteiligt war. Was die Zeit der Handlung betrifft, macht Selåker klar: „Wir wollten einfangen, wie es war, damals bei einer Boulevardzeitung zu arbeiten, als die Medien so viel Macht hatten. Was in gewisser Weise zu dem feindseligen Arbeitsumfeld beigetragen hat, aber auch zu dem Reiz und dem Gefühl, dass zu jeder beliebigen Sekunde alles passieren konnte …“

Der reiche Erfahrungsschatz der Autoren zeigt sich zudem in der detaillierten Vorstellung der Lebensumstände ihres Ermittler-Duos, das erst am Ende des ersten Drittels des Plots aufeinandertrifft. Obwohl sie erkennen, dass sie parallel am selben Mordfall arbeiten, ist von gemeinsamer Ermittlungsarbeit anfangs keine Rede, denn man misstraut einander. Kein Wunder, sucht Vera doch die große Story und schreckt dabei vor illegalen Aktionen nicht zurück. Währenddessen hat Tomas mit allerlei Dämonen aus der Vergangenheit zu kämpfen und muss mit ansehen, wie seine mühsam aufrecht erhaltene Fassade zu bröckeln beginnt.

Fallstricke

Eingerahmt zwischen Pro- und Epilog ist der Kriminalroman in fünf Kapitel aufgeteilt, die sich wiederum in mehrere Tage des heißen Sommers 1994 gliedern. Engman und Selåker wechseln alle paar Seiten die Erzählerperspektive. Sie bauen auch reale Ereignisse wie die Fußball-Weltmeisterschaft oder den Amoklauf von Matthias Flink in ihre Handlung ein, wodurch die fiktiven Geschehnisse rund um Frauenmorde in der Nähe von Flüchtlingsheimen wie wahre Begebenheiten wirken. Die dabei aufgegriffenen Themen Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit sind heute nach wie vor aktuell.

Manchmal jedoch verheddern sich die Autoren selbst in den ausgelegten Fallstricken. So sind die Rückblenden von Tomas mitunter repetitiv. Die eine oder andere Kürzung hätte dem Text wohl gutgetan und die Jagd nach dem Mörder scheinen sie beim Schreiben manchmal etwas aus den Augen verloren zu haben. Doch langweilig wird es mit den beiden recht kaputten Hauptfiguren dennoch nicht: Je mehr Abgründe und Schwächen des Ermittler-Duos die Autoren im Fortgang der Handlung preisgeben, desto mehr gewinnt dieses an Authentizität.

Der Wandel des Frauenbildes

Manches Detail der Handlung scheint absurd. So flimmert abends in der Stockholmer Redaktion ein stumm geschalteter Porno auf einem der Bildschirme. Dazu informiert Selåker: „Fast alle Redaktionsszenen in diesem Roman und auch in den folgenden Büchern beruhen auf realen Ereignissen in den 80er-, 90er- und frühen 00er-Jahren.“ Man habe alle Recherchen herangezogen, die man aus verschiedenen Gründen nicht veröffentlichen konnte, und die Welt, in der Vera Berg versucht, sich zu etablieren, aus diesen Puzzleteilen erschaffen. Berg erinnert sich an eine Petition gegen diese pornografische Unterhaltungspraxis, bei der die Initiatorin nicht nur belächelt, sondern auch von der anwesenden Belegschaft verhöhnt wurde. Auch hier: „Es ist eine wahre Geschichte, obwohl sie nie veröffentlicht wurde“, sagt Selåker und ergänzt: „Jahre vor #MeToo habe ich an einer Geschichte gearbeitet, die später zu einer der größten #MeToo-Storys in Schweden wurde, aber vom Chefredakteur aus Gründen der journalistischen Ethik eingestellt wurde.“ Eine größere Rolle bei der Entwicklung des Romans spielte die Frustration von Engman und Selåker während ihrer gemeinsamen Zeit als junge Unterhaltungsreporter in der Vor-#MeToo-Ära, als viele potenzielle Untersuchungen über Machtmissbrauch und sexuellen Missbrauch vereitelt wurden.

Selåker hat 2017 eine der größten #MeToo-Untersuchungen in Schweden geleitet und war an den Recherchen rund um TV-Moderator Martin Timell beteiligt. Doch zum Zeitpunkt der Krimihandlung ist die Bewegung noch nicht geboren: Kommissar Wolf bedient sich mehrfach Veras weiblicher Reize, um an Informationen zu gelangen. „So schmierig er auch war, er könnte eine gute Quelle abgeben. Die notgeilsten Säcke waren oft die nützlichsten Idioten.“ Denn eines stellt der Text klar: „Ein Journalist ohne Quellen war bei einer Abendzeitung ein Niemand.“

Vera ist es leid, ständig als Journalist (bewusst ungegendert) zweiter Klasse wahrgenommen zu werden. Stets trifft sie als Frau „auf Widerstand, in der Redaktion ebenso wie draußen im Feld. In jeder sozialen Situation musste man seine Persönlichkeit oder sein Aussehen anpassen, um Männern zu gefallen. Sich unterwürfig geben. Gefügig. Manchmal aggressiv. Sonst hatte man keine Chance.“ Es bleibt abzuwarten, wie sich die Figur in „Wintersonnenwende“, dem im Herbst 2024 erscheinenden zweiten Teil der Serie, entwickeln wird.

Korruption und Scheckbuch-Journalismus

Doch nicht alles an der vergangenen Ära gilt es zu bemängeln, denn eines ist gewiss: Damals waren die Zeitungsauflagen hoch und die Kündigungswelle, die 2001 über ein Drittel der Belegschaft von Expressen hinwegrollen sollte, noch in weiter Ferne. Trotzdem kämpft Vera mit finanziellen Problemen und muss vorsichtig sein. Unsauber abgerechnete Tippgeberhonorare hätten sie in der alten Redaktion fast ihren Job gekostet. Doch auch beim neuen Arbeitgeber schreckt sie nicht davor zurück, nur die Hälfte des Honorars an die eine oder andere Quelle abzuführen.

Während im Krimi aufgrund der (zusätzlichen) Unterschlagung der Reporterin die unethische Praxis des Scheckbuch-Journalismus offen gelegt wird, bleibt diese Praxis im realen journalistischen Arbeitsleben oftmals im Verborgenen, wie der 2016 erschienene Bericht „Korruption im Journalismus – Wahrnehmung, Meinung, Lösung“ von Transparency International Deutschland e. V. 2016 zeigt. Bei dieser bundesweiten Online-Befragung von JournalistInnen wurden Korruptionswahrnehmung und eigene Erfahrungen abgefragt. Ein Ergebnis: 77 Prozent der Befragten hielten Angebote von geldwerten Vorteilen an JournalistInnen für verbreitet, 69 Prozent gaben an, dies bereits selbst erlebt zu haben.

Zum Thema Scheckbuch-Journalismus stellt der Presserat in der Richtlinie 1.1 des Pressekodex fest: „Die Unterrichtung der Öffentlichkeit über Vorgänge oder Ereignisse, die für die Meinungs- und Willensbildung wesentlich sind, darf nicht durch Exklusivverträge mit den Informanten oder durch deren Abschirmung eingeschränkt oder verhindert werden.“ Denn wer ein Informationsmonopol anstrebe, schließe die übrige Presse aus und behindere die Informationsfreiheit.

Reales Vorbild

Zurück zum Krimi: Durch Zufall decken Wolf und Berg (unabhängig voneinander) auf, dass es mehrere Fälle nach dem gleichen Muster gibt: brutale Vergewaltigung und anschließender Frauenmord. Der Täter scheint zu wissen, dass die Polizeireviere nicht miteinander kommunizieren und er so relativ unbehelligt sein Unwesen treiben kann, solange er nur einmal je Bezirk zuschlägt. Dies wird durch eine Gemeinsamkeit deutlich: Bei den Opfern wird eine weiße Substanz gefunden, ein verbindender Hinweis, der bei den Ermittlungen geraume Zeit übersehen wird. Auch Mersiha, eine Frau, die den Mordanschlag überlebt hat, bleibt lange als wertvolle Quelle unentdeckt. Die Journalistin Berg, welche die junge Frau aufspürt, erhält einen weiteren wertvollen Hinweis. Die einstige Kunststudentin Mersiha hat eine Zeichnung vom Täter angefertigt. Doch bei einem Einbruch in Bergs Wohnung verschwindet diese und so muss sie sich der Frage stellen: Wer wusste davon? Die Journalistin hat außer den Kommissar kaum jemand eingeweiht.

Die Idee eines Täters, der die fehlende Kommunikation der Polizei auszunutzen weiß, ist nicht neu. In der 2019 erschienenen Serie „Unbelievable“ jagen zwei Polizistinnen ebenfalls einen Serienvergewaltiger, der diesen Umstand auszunutzen weiß. Die Hintergründe der Serie basieren auf einem True-Crime-Fall und der pulitzerpreisgekrönten Reportage von T. Christian Miller und Ken Armstrong, die darin über das Schicksal einer jungen Frau berichten. Diese gab 2008 bei der Polizei an, des Nachts von einem Fremden in ihrer Wohnung überfallen und vergewaltigt worden zu sein. Wenig später zieht die 18-Jährige die Anzeige zurück und wird öffentlich bloßgestellt. Dank der hervorragenden sowie überregionalen Arbeit zweier Polizistinnen wird die junge Frau später rehabilitiert und der Fall aufgeklärt.

Fazit

Mit „Sommersonnenwende“ haben Pascal Engman und Johannes Selåker einen gelungenen Krimiserienauftakt geschaffen. Die geschickt eingearbeiteten realen Ereignisse des Jahres 1994 lassen so manche Länge vergessen. Zudem sind die beiden Ermittelnden verletzlich und authentisch gezeichnet. Vor allem die Figur der manchmal unsauber agierenden Journalistin Vera Berg bringt ein wichtiges Thema mit in die Geschichte: Korruption im journalistischen Arbeitsalltag.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV)

Buchdaten:
Autoren: Pascal Engman und Johannes Selåker
Titel: Sommersonnenwende (Kriminalroman)
Aus dem Schwedischen von Ulla Ackermann
Preis: 17,99 € (D) und 18,50 € (A) (Klappenbroschur)
Umfang: 592 Seiten
Erscheinungsjahr: 2023
Verlag: Ullstein Paperback
ISBN: 978-3-86493239-7

 

 

 

Johannes Selaker (li.) und Pascal Engman; Foto: Gabriel Liljevall

Die Autoren:
Pascal Engman, geboren 1986, ist der meistverkaufte schwedische Krimiautor seiner Generation. Der Autor und Journalist wurde mit seinem 2017 erschienenem Thriller-Debüt „Der Patriot“ von KritikerInnen und LeserInnen gleichermaßen gefeiert. Er hat weltweit über eine Million Exemplare seiner Bücher verkauft und wird in mehr als 20 Ländern veröffentlicht.
Johannes Selåker arbeitet als Journalist und war bei den Zeitungen Aftonbladet, Expressen und Aller Media als Nachrichtenleiter und Chefredakteur tätig. 2017 hat er eine der größten #MeToo-Untersuchungen geleitet. „Sommersonnenwende“ ist der erste Kriminalroman, den er zusammen mit Pascal Engman geschrieben hat. Sein Debüt gab er mit dem Spannungsroman „Firstborn“ im Jahr 2020.


Die Rezensentin Carola Leitner, Dr. phil., promovierte 2016 im Fach Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien und arbeitet(e) als Buchhändlerin, Buchproduzentin, Lektorin und Reise- und Kulturjournalistin. Tätigkeit für den Residenz Verlag, Ueberreuter, Metro Verlag, die Tageszeitung Der Standard oder ORF.at. Sie unterrichtet Journalismus an der FH Wien der WKW sowie Verlagswesen an der Universität in Wien, wo sie derzeit lebt und arbeitet.

 

 

 

 

 

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