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Von der geschriebenen zur audiovisuellen Reflexion: Zur Zukunft der Filmkritik

Der Abgesang auf die Filmkritik wurde im vergangenen Jahr erneut angestimmt. Doch dabei blieben vielversprechende Impulse im Internet häufig unbeachtet. Zur Situation der Filmkritik in Deutschland.

„Wir sind uns im Klaren über den Statusverfall der Kritik und über die Marginalisierung und zunehmende Wirkungslosigkeit des klassischen Rezensionsjournalismus. Dessen Definitionsmacht schwindet.“ Mit diesen nüchternen Worten eröffnete die österreichische Publizistin Sigrid Löffler ihre Laudatio auf die österreichische Literaturwissenschaftlerin Daniela Strigl zur Verleihung des Berliner Preises für Literaturkritik 2015. Löfflers Befund schloss ein Jahr ab, in dem immer wieder vom drohenden Niedergang der Literatur-, Musik- und zum erheblichen Teil auch Filmkritik die Rede war.

So befand es der Verband der Deutschen Filmkritik (VDFK) für notwendig, parallel zur Berlinale die erste Woche der Kritik auszurufen, gegen das Verkommen der Filmkritik zur bloßen Dienstleistung und für das Erstarken einer produktiven Streitkultur. Diese Interventionsmaßnahme wurde im einige Monate zuvor veröffentlichten Flugblatt für aktivistische Filmkritik bereits angekündigt.

Zugleich wurde auf der Berlinale Dominik Grafs Dokumentarfilm „Was heißt hier Ende?“ gezeigt – eine Hommage an den 2011 verstorbenen Filmkritiker Michael Althen, der lange Zeit für die „Süddeutsche Zeitung“ und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ tätig war und die deutsche Filmkritik mit seinem ihm eigenen empfindsamen Rezensionsstil nachhaltig prägte. Mehrere bekannte Filmkritiker der Generation Michael Althens wurden in Grafs Film zum heutigen Stand der Filmkritik befragt – ihre Antworten fielen ernüchternd aus: „Was willst du heute eigentlich noch mit Filmkritik machen? Wie viele Zeitungen werden übrig bleiben, die sich so etwas auch leisten können?“, fragt etwa Harald Pauli vom „Focus“. Auch auf das Erstarken der sogenannten „Service-Kritik“ wird eingegangen: Bei dieser Kritikform wird nur noch der Inhalt des Films nacherzählt und dieser schließlich nach einem Punktesystem bewertet. Für eine ästhetische oder gar ideologiekritische Reflexion des Gesehenen und für die Thematisierung von Filmen jenseits des Mainstreams scheint es im Printjournalismus kaum mehr Platz zu geben. Für Stephan Lebert von der „Zeit“ ist es auch gerade dieser Mangel an Perspektiven, der einen ebenbürtigen Kritikernachwuchs abschreckt: „Man hat nicht das Gefühl, dass da jetzt die Elite nachrückt.“ Ein Urteil, dass jüngere Filmkritiker düpiert haben muss.

Renaissance der Filmkritik im Netz?

Das Paradoxe an diesen Abgesängen zur Filmkritik ist, dass wahrscheinlich nie zuvor so viel über Film gelesen und gesprochen wurde wie heute – jedenfalls online: Auf dem Empfehlungsportal moviepilot.de tauschen sich nach eigenen Angaben monatlich ca. 255.000 registrierte Nutzer aus, mehr als fünf Millionen Besucher steuern die Seite monatlich an. Informationsportale wie Filmstarts.de oder IMDb.com werden monatlich ebenfalls millionenfach aufgerufen.

Das Publikumsinteresse an Informationen und Reflexionen zu Filmen scheint ungebrochen. Nachdem sich bekannte Filmblogs wie die seit 2006 bestehenden Fünf Filmfreunde etablieren konnten, differenziert sich seit Ende der Nullerjahre auch auf Videoportalen wie Vimeo und Youtube eine rege, vielfältige Review-Szene aus. Deren Vertreter widmen sich mit großem Enthusiasmus und zunehmender Professionalität der Filmbesprechung – eine Entwicklung, die in den USA etwas früher eingesetzt hat als hierzulande.

So verfügt der seit 2007 bestehende Youtube-Kanal von Jeremy Jahns inzwischen über 900.000 Abonnenten, die sich in seinen knapp fünfminütigen Kurzkritiken über aktuelle Filme informieren. Jahns‘ ungehemmter Redefluss ermöglicht es ihm, in diesen fünf Minuten den Inhalt des Films in groben Zügen darzustellen, ihn einem Genre zuzuordnen, Vergleiche zu ziehen und seinen Gesamteindruck wiederzugeben. Weitaus eingängiger und detailverliebter widmet sich Chris Stuckmann seinen Filmkritiken, in denen er auf Handlung, Motive und schauspielerische Leistungen im jeweiligen Film näher eingeht und eine Bewertung nach einer Notenskala vergibt. Und auch deutschsprachige Review-Formate finden sich inzwischen auf Youtube, worunter Robert Hofmanns seit 2011 bestehender Kanal der bekannteste sein dürfte. Im Gespräch erklärt er, dass er vor allem die Reichweite des Videoportals und das „direkte, ungefilterte Feedback“ der Nutzer schätze. Seine Kurz-Reviews sollen in erster Linie Information und Orientierung bieten.

Warum solch ein Dienstleistungscharakter bei der „klassischen“ Filmkritik auf Ablehnung stößt, versteht Hofmann nicht: „Man möchte einer Masse von Zuschauern erzählen, ob ein Film gut ist oder nicht gut ist. Das ist und war in meinen Augen schon immer eine Dienstleistung und ich weiß nicht, warum Filmkritiker darin unbedingt eine höher gehobene Kunst sehen wollen.“

Hier wird deutlich, wie weit die Ansprüche von den Video-Reviewern und namhaften Filmjournalisten auseinanderklaffen. Sven von Reden, Mitglied im Verband der Deutschen Filmkritik und seit den 1990er-Jahren als Filmkritiker unter anderem für die „taz“, die „Berliner Zeitung“ und „3sat“ tätig, befindet im Hinblick auf das ihm bekannte Filmkritik-Angebot im Netz: „Es gibt im Internet viele Besprechungen von Fans, die auch nicht mehr sind als Inhaltszusammenfassungen mit ein paar drangeklatschten Adjektiven, wie zum Beispiel ‚unterhaltsam‘, ’spannend‘ und so weiter. Das ist nicht das, was ich unter Filmkritik verstehe.“

Raum für Unterhaltung und Anspruch

Die Kanäle von Hofmann, Stuckmann und Jahns bieten vordergründig schnelle Information, klare Bewertung und Unterhaltung. Sie stillen damit den ersten Informationsbedarf von Kinogängern, was auch ihr Anliegen ist.

Dass auf Videoportalen aber auch Platz für aktuelle Filmkritiken mit Tiefgang ist, zeigt der Kanal Die Filmanalyse des Literaturwissenschaftlers Wolfgang M. Schmitt: In zehn- bis fünfzehnminütigen Videos widmet sich Schmitt aktuellen Hollywood-Filmen aus einer ideologiekritischen Perspektive. Dabei wirken sein betont akademisches Auftreten und der Vorlesungsstil seiner Kritiken auf Youtube zunächst deplatziert – ein Effekt, dem er etwas abgewinnen kann: „Wenn man im Anzug auftritt und hinter einem steht das Kindlers Literaturlexikon und die Marx-Engels-Gesamtausgabe, dann wird man angegriffen. Und es ist sehr gut, dass es diese Reibung gibt, dadurch entsteht beim Zuschauer auch ein kritisches Bewusstsein mir gegenüber.“

Während die hier vorgestellten Filmreview-Kanäle das gesprochene Wort des jeweiligen Kritikers in den Vordergrund stellen und auf Filmausschnitte grundsätzlich verzichten, sind diese für sogenannte Video-Essays unverzichtbar. Diese Form der analytischen Film- oder Werkbesprechung hat sich im englischsprachigen Raum in den letzten Jahren rasant entwickelt.

Der bekannteste unter den Video-Essayisten ist Kevin B. Lee, den die „New York Times“ mit dem Titel „King of the Video Essay“ adelte. Zu den übergeordneten Themen seiner Essays stellt Lee passende Filmausschnitte zusammen und arrangiert sie so, dass eine eingängige und lehrreiche Werk- oder Motiv-Analyse entsteht. Tony Zhou, Nelson Carvajal, Matt Zoller Seitz sind weitere Vertreter dieses viel beachteten Genres, das auch von den Filmkritikern der alten Garde als interessante Erweiterung gewürdigt wird. So bezeichnete Roger Ebert, der mittlerweile verstorbene amerikanische Filmkritik-Papst, Kevin B. Lee als einen der „klügsten Filmkritiker unserer Zeit“. Und auch hierzulande tastet man sich an das Video-Essay heran, etwa auf critic.de.

Sven von Reden teilt die Begeisterung für die Video-Essays, weist aber auch auf die Hürden hin, die der weiteren Entwicklung dieser Form im Wege stehen dürften: „Sobald man Filmausschnitte benutzt, gibt es Probleme mit dem Copyright. Es werden zwar von den Verleihern EPKs [= Electronic Press Kits/elektronische Pressemappen] mit Ausschnitten zur Verfügung gestellt, aber auf der Basis ist keine unabhängige Kritik oder seriöse Analyse möglich.“

Mit den angesprochenen Copyright-Problemen haben vor allem die amerikanischen Youtube-Reviewer zu tun, die in ihren Videos Filmausschnitte zeigen und sich dabei auf das „Fair Use“-Prinzip im US-Urheberrecht berufen. Dieses erlaubt die teilweise Verwendung und Verbreitung fremder Inhalte, sofern dies zum Zwecke der kritischen Auseinandersetzung oder Weiterbildung geschieht. Die Faktoren, die zur Beurteilung der Verwendungsart herangezogen werden, sind dabei stets Auslegungssache – Sperraufforderungen und Urheberrechtsklagen von US-Verleihern können die Folge sein. Dies ruft seit kurzem den Google-Konzern auf den Plan, der den Wert der beanstandeten Videos für seine Plattform Youtube verteidigen möchte: Seit Kurzem sichert Google ausgewählten Videomachern Unterstützung bei ihren rechtlichen Auseinandersetzungen zu. Ob dieser Einsatz auch im deutschen Rechtsraum mit seinen eigenen Urheberrechts- und Verwertungsgesetzen erfolgen wird, bleibt abzuwarten. Bislang schrecken die deutschen Youtube-Reviewer ohnehin vor einer Verwendung von aktuellem Filmmaterial zurück.

Ausblicke

Der Trend zur Online-Filmkritik hält an und hier insbesondere zur audiovisuellen Review. Dass damit die Filmkritik im Print-Bereich obsolet wird, glaubt Sven von Reden nicht. Er attestiert den Tageszeitungs- und Fachmagazinkritiken weiterhin eine Notwendigkeit, wünscht sich aber zugleich eine „gehaltvollere“ audiovisuelle Kritik im Netz.

Wolfgang Schmitt glaubt, dass die Zukunft der Filmkritik vor allem im Online-Bereich liegt – und dort in anspruchsvolleren Formaten: „Man ist ja online viel variabler als in der Zeitung. Ich glaube, dass das eine große Chance ist: Das Internet bietet tatsächlich eine große Freiheit, die man aber auch erkennen und nutzen muss. Man darf diesen Kanal nicht irgendwelchen Stümpern überlassen, die einfach nur Unterhaltung machen.“

Überdenkt man Stephan Leberts Aussage im Film von Dominik Graf, dass der fähige Kritiker-Nachwuchs von den mangelnden Perspektiven abgeschreckt werde, könnte man am Wachstumspotenzial der audiovisuellen Filmberichterstattung zweifeln. Schließlich verdienen die wenigsten der Video-Reviewer und -Essayisten mit ihren Werken tatsächlich Geld. Aber es sind gerade diese vermeintlichen Hobbykritiker, die aktuell für neue Impulse in der Filmkritik sorgen und deren Durchhaltevermögen imponiert: „Ich habe anderthalb Jahre gebraucht, bis ich 10.000 Abonnenten hatte, was für mich eine riesige Zahl war. Das hieß, anderthalb Jahre das wirklich zu machen, zu machen und zu machen und nicht zu hinterfragen, ob sich das irgendwann lohnen wird“, so Robert Hofmann, der von seinem nun über 350.000 Abonnenten umfassenden Kanal inzwischen leben kann.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

Dobrila_KonticDie Autorin Dobrila Kontić, M.A., studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften, Englische Philologie und Neuere Geschichte an der FU Berlin. Nach Praktika und freier Mitarbeit u. a. beim Berlinale Talent Campus, Verlag Rogner & Bernhard sowie der Berliner Literaturkritik gründete sie 2009 das Onlinemagazin culturshock.de.

Kommentare
  1. Alex S. sagt:

    Eine Frage: habe mich jetzt kreuz und quer durch den Vimeo-Kanal von Kevin B. Lee geklickt und nicht einen ansprechenden Essay gefunden. Vielleicht bin ich vom (ebenfalls erwähnten) Tony Zhou etwas verwöhnt, aber könnte mir vielleicht jemand ein Video von B. Lee empfehlen, das gut ist? Habe auch den Eindruck, viele von den Videos entstammen unterschiedlichen Machern… Jedenfalls wird immer irgendwer anders angeworben.
    Vielen Dank

  2. Dobrila sagt:

    @Alex S.: Das ist natürlich Ansichtssache. Ich finde Tony Zhous Video-Essays zwar zugänglicher, wenn es um Aufbau und Argumentation geht, dafür hat Kevin B. Lee aber mit seinem Tranformers-‚Premake‘ eine sehr erfrischende Weise gefunden Produktions- und Vermarktungsbedingungen von Blockbustern kritisch zu reflektieren: http://www.alsolikelife.com/premake/. Vielleicht liegen ihm generell die Desktop-Documentaries mehr? Da kann ich vor allem die empfehlen, die sich dem Video-Essay per se widmet – und dabei wieder Tony Zhou lobt 😉 https://vimeo.com/115206023