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Whistleblower-Drama „Reality“: Ein folgenreiches Gespräch

Reality zeichnet mit der Nachstellung eines realen FBI-Verhörs auf ungeahnt fesselnde Weise den Moment der Überführung der Whistleblowerin Reality Winner 2017 nach.

In wortloser Stille und in nüchterner Atmosphäre verstreichen die ersten Minuten des Whistleblower-Dramas Reality: Eine junge Frau sitzt im Mai 2017 mit dem Rücken zur weiter entfernten Kamera in ihrer grauen Kabine eines Großraumbüros vor zwei Computermonitoren. Im Hintergrund verkündet eine Sendung des amerikanische TV-Senders Fox News kaum hörbar, dass Präsident Donald Trump soeben den FBI-Direktor James Comey entlassen habe.

Ein darauf folgender Zeitsprung zum 3. Juni 2017 führt etwas näher an Reality Winner (Sydney Sweeney) heran, die an diesem Samstag Supermarkteinkäufe erledigt und sich auf der Heimfahrt mit einem unergründlichen, nachdenklichen Blick über das Lenkrad ihres Autos beugt. Es ist ein letztes kurzes Innehalten, bevor ihr Leben gründlich auf den Kopf gestellt wird. An ihrem Haus in Augusta im US-Bundesstaat Georgia warten nämlich zwei FBI-Beamte, die sich als Agent Justin C. Garrick (Josh Hamilton) und Agent R. Wallace Taylor (Marchánt Davis) ausweisen. Sie haben einen Durchsuchungsbefehl und wollen mit Reality über einen „möglicherweise missbräuchlichen Umgang mit vertraulichen Informationen“ sprechen.

Eine reale Befragung als Vorlage

Was sich im Folgenden im Film Reality abspielt, ist an den realen Fall um die Whistleblowerin mit dem ungewöhnlichen Namen Reality Winner nicht nur angelehnt, sondern dessen behördlicher Dokumentation direkt entnommen: Nachdem das FBI Ende 2018 ein Transkript der Audioaufzeichnung von Realitys Befragung zugänglich gemacht hatte, las es Theaterregisseurin Tina Satter und erkannte dessen Bühnenpotenzial. 2019 feierte ihr auf diesem Transkript beruhendes Theaterstück „Is This a Room? Reality Winner Verbatim Transcription“ in New York Premiere. Mit Reality folgt nun die ebenso von Satter umgesetzte Filmadaption dieses Dokuments.

Der Anlass für das im Theaterstück und im Film nachgestellte Verhör von Reality Winner war, dass sie im Mai 2017 bei ihrer Arbeit als Übersetzerin für ein Subunternehmen der National Security Agency (NSA) einen vertraulichen und nicht für die Öffentlichkeit vorgesehenen NSA-Bericht ausgedruckt, aus dem Gebäude geschmuggelt und schließlich per Post anonym an die investigative Online-Publikation The Intercept geschickt hatte. Er handelte von kurz vor der US-Wahl 2016 verübten russischen Hackerangriffen auf den Anbieter einer US-Wahlsoftware.

Über die Möglichkeit derartiger russischer Einflussnahmen auf die Wahlen, aus denen Donald Trump als US-Präsident hervorgegangen war, wurde zu Beginn seiner Amtszeit in den USA heftig spekuliert und debattiert – vor allem, nachdem Trump den FBI-Direktor James Comey entließ. Dieser hatte zuvor vor einem Geheimdienstausschuss ausgesagt, das FBI untersuche Verbindungen zwischen Trump und Russland. Heute gilt die „Russiagate“-Theorie über solche Verbindungen durch den „Mueller-Report“ von 2019 als entkräftet.

Ein „freiwilliges“ Gespräch

Den konkreten Anlass für ihr Erscheinen nennen die beiden Agenten kurz nach Eintreffen vor Realitys Haus nicht. Fast in Echtzeit und mit wenigen Raffungen zeichnet der Film im Folgenden den Verlauf des Gesprächs nach, das zunächst viel deeskalierenden Small Talk enthält: Während ein Trupp von weiteren FBI-Bediensteten sich daran macht, Realitys kleines Haus zu durchsuchen, lenkt Agent Garrick die Konversation geschickt auf deren Hund und lässt wie nebenbei fallen, dass die anstehende Befragung „freiwillig“ sei.

Wird vor ihrem Haus von den FBI-Agenten Taylor (Marchant Davis) und Garrick (Josh Hamilton) empfangen: Die Whistleblowerin Reality Winner (Sydney Sweeney) findet sich bald in einer immer beunruhigender werdenden Befragung wieder. © Grandfilm Mickey & Mina LLC

Reality, von Sydney Sweeney mit sehr viel Feinsinn für subtile Stimmungswechsel gespielt, bleibt zunächst gefasst und abwartend. Sie lässt sich auf das freundlich scheinende Geplauder über ihre Haustiere, ihre Hobbys und ihr Leben in Augusta ein, wobei vor allem Agent Wallace wiederholt einen wohlwollend kumpelhaften Ton anschlägt. Bei diesem Gespräch entlocken ihr die beiden Agenten weitere Details zu ihrer offensichtlich ohnehin schon genau durchleuchteten beruflichen Laufbahn: Reality, Jahrgang 1991, hatte sechs Jahre in der Air Force gedient, wo sie zur kryptologischen Linguistin in den Sprachen Dari, Paschtu und Farsi ausgebildet wurde. Hellhörig werden sie, als sie ihren Unmut mit ihrer derzeitigen Arbeit andeutet, da sie ja eigentlich von einer Versetzung nach Afghanistan träume, um ihre Kenntnisse in Dari und Paschtu zu vervollkommnen.

Satters Film entwickelt sich mit seinem Fokus auf die Interaktionen zwischen den sich systematisch zu einem Geständnis vortastenden Agenten und einer zunehmend zögerlich agierenden Befragten zu einem unerwartet fesselnden wie beklemmendem Kammerspiel. Äußerst fein gezeichnet sind die Momente, in denen das so gewollt sympathische Gebaren von Garrick und Wallace plötzlich in einen kühlen, anweisenden Ton umschlägt – etwa, als Reality ihnen erklären soll, wie man ihr Mobiltelefon (für das ebenfalls ein Durchsuchungsbefehl vorliegt) entsperrt, aber beim Griff danach zurechtgewiesen wird. Der Ernst der Lage zeichnet sich hier deutlich ab. Die Gefahr einer gründlichen Umwälzung ihrer Lebensumstände scheint durch die profane Schein-Plauderei durch und trägt sich durch die zunehmend ernster werdende Befragung von Reality fort.

Die Rolle von The Intercept

Durch seinen sehr engen Fokus auf die Befragungssituation fängt dieses semi-dokumentarische Drama den Moment der überführenden Einkreisung der Whistleblowerin Reality Winner minutiös ein. Selbstverständlich bleiben dabei die weiteren Hintergründe und Verantwortlichkeiten unangesprochen – etwa die Rolle des Online-Magazins The Intercept, das erst zu Ende des Films auch tatsächlich namentlich erwähnt wird, im Widerspruch zu den Titelschwärzungen im Transkript. Im Februar 2014 wurde das Publikationsorgan nach einer großzügigen Finanzierung durch den eBay-Mitgründer Pierre Omidyar von einem renommierten Journalisten-Trio aus Jeremy Scahill, Laura Poitras und Glenn Greenwald gegründet. Poitras und Greenwald waren da schon durch ihre Enthüllung des NSA-Spionageskandals und die enge, schützende Zusammenarbeit mit Whistleblower Edward Snowden berühmt geworden. Ein Ziel von The Intercept war die weitere Aufbereitung des von Snowden gelieferten Materials unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen. Zudem wollte sich das Magazin der Berichterstattung über wichtige Themen im öffentlichen Interesse widmen sowie Korruption, Justizmissbrauch und Bürgerrechtsverletzungen aufdecken.

Mangelhafter Quellenschutz

Wie heute bekannt ist, war Reality Winner nicht nur regelmäßige Leserin des Online-Magazins, sondern auch Hörerin des zugehörigen Podcasts The Intercepted, in dem Glenn Greenwald Anfang 2017 die Spekulationen um eine mögliche russische Einflussnahme auf die vorangegangen US-Wahlen als haltlos zurückwies. Diese Aussage wollte Winner damals offenbar mit dem Leak des NSA-Dokuments zu entsprechenden Hacking-Versuchen widerlegen. Doch wie ein New York Times-Artikel später ausführlich darlegte, ging der von Winner geschickte NSA-Bericht nicht direkt Greenwald zu, sondern wurde von anderen Kollegen bei The Intercept bearbeitet, die übliche Sicherheitsmaßnahmen im Umgang mit solchen Geheimdienstdokumenten vernachlässigten.

Drei zentrale Fehler wurden nach Analyse eines späteren internen Untersuchungsberichts beim Umgang mit dem Dokument gemacht: Zunächst hatte der Intercept-Redakteur Matthew Cole zur Verifizierung des vertraulichen Berichts einen Ansprechpartner aus Geheimdienstkreisen kontaktiert, diesem die Ortsdaten des Poststempels genannt und ein Faksimile des Originaldokuments samt sichtbarer Faltungen zur Verfügung gestellt. Dann wurde das Originaldokument im später erscheinenden Intercept-Artikel im Original veröffentlicht – zudem auch noch unverzeihlicherweise samt entlarvender Druckercodes.

All diese Informationen, von Coles Kontakt direkt an die NSA weitergegeben, hatten dazu beigetragen, dass Reality Winner noch vor Veröffentlichung des Artikels vom FBI als Verdächtige identifiziert, befragt und schließlich festgenommen wurde. „Einen anonymen Informanten nicht zu schützen, ist eine Kardinalsünde im Journalismus, obwohl das Bemerkenswerte in diesem Fall ist, dass The Intercept gar nicht zu versuchen schien, seine Quelle zu schützen“, befindet der New York Times-Artikel hierzu.

Ein ungeahnter Grad der Überwachung

Beklemmendes Kammerspiel nach dem Transkript der FBI-Befragung von Reality Winner: Agent Taylor und Agent Garrick  konkretisieren systematisch die Anschuldigungen gegen die junge Frau. © Grandfilm Mickey & Mina LLC

Langsam und systematisch konkretisieren die beiden Agenten in Reality ihre Vorwürfe, nachdem das Gespräch vom Vorgarten in einen ungenutzten kargen Nebenraum ihres Hauses verlegt wird. Dabei täuschen sie einen milden Umgang mit Reality vor, sofern sie ihnen entgegenkomme und ihre Fehler zugebe. Zu keinem Zeitpunkt des Gesprächs besteht Reality auf dem ihr zustehenden Recht zu schweigen oder auf der Anwesenheit eines Anwalts. Stattdessen lässt sie sich auf die vermeintlich freiwillige Befragung weiter ein, bis ihre Lage aussichtslos scheint. Es wird schmerzlich klar, wie unvorbereitet sie auf das Eintreten einer solchen Situation nach ihrem Leak war.

Indirekt wirft das im Film dargestellte Gespräch (wie diverse Artikel zu ihrem Fall) die Frage auf, ob sie gänzlich undurchdacht und naiv gehandelt habe. Glenn Greenwald, der The Intercept 2020 verließ und dabei zugleich mit der Publikation abrechnete, wies im Gespräch mit Rolling Stone darauf hin, dass weder verantwortlicheres Handeln seitens The Intercept noch größere Vorsichtsmaßnahmen der Whistleblowerin selbst sie final hätten schützen können, „weil die US-Regierung ein so umfassendes Überwachungssystem geschaffen hat, dass es für jede interne Informantin sehr schwierig ist, sich der Entdeckung zu entziehen, wenn die Regierung entschlossen ist, sie zu finden.“

Ebenso weist der Film indirekt diesen Vorwurf der Naivität zurück, indem er ein feinfühliges Bild davon vermittelt, wie sich Reality durch das schwierige Gespräch zu manövrieren versucht. Dabei werden (reale) Fotos von Reality eingestreut und die beschlagnahmten Habseligkeiten in ihrem Haus fokussiert, zu denen unter anderem Notizblöcke voll kindlicher Kritzeleien, ein mit diversen Anmerkungen versehener Koran und ein pinkes Sturmgewehr gehören. In ihrer Gesamtheit zeichnen sie das Bild einer komplexen Persönlichkeit, die ihre eigenen idealen Vorstellungen davon hat, was es heißt, ihrem Land zu dienen. Es ist erstaunlich, dass selbst sie als militärisch ausgebildete, sprachlich hochbegabte und in den Sicherheitsapparat involvierte NSA-Mitarbeiterin so gänzlich unvorbereitet auf ihre schnelle Überführung scheint. Dies offenbart das Ausmaß einer Überwachung, die gemeinsam mit dem von der US-Regierung vielfach zweckentfremdeten „Espionage Act“-Gesetz die Entdeckung und Verurteilung von Whistleblowern vereinfacht.

Wie schutzlos diese dann letzten Endes sind, macht dieser in seiner aufschlussreichen Aufbereitung eines folgenreichen Gesprächs so sehenswerte Film sehr spürbar.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV)

Reality
USA 2024. 82 Min.
Regie: Tina Satter. Drehbuch: Tina Satter, James Paul Dallas
Kamera: Paul Yee
Besetzung: Sydney Sweeney, Josh Hamilton, Marchánt Davis
Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=69HaOlhUQ1c&ab_channel=GRANDFILM

Der Film startet am 8. Februar 2024 in den deutschen Kinos.


Die Autorin Dobrila Kontić hat Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften, Englische Philologie und Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin und Journalismus am Deutschen Journalistenkolleg (DJK) studiert. Sie arbeitet als freie Journalistin, Film- und Serienkritikerin in Berlin.

 

 

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