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Filmkritik zu „Erfundene Wahrheit – Die Relotius Affäre“: Ein Medienskandal in der Nachbetrachtung

Daniel Sagers sehenswerter Dokumentarfilm vermittelt durch die differenzierte Auseinandersetzung mit Relotius‘ Reportagen einen umfassenden Eindruck über den nachwirkenden Fälschungsskandal.

Mehr als vier Jahre liegt die Enthüllung des Fälschungsskandals um den vielfach ausgezeichneten Spiegel-Reporter Claas Relotius nun zurück. Sie nahm am 19. Dezember 2018 mit einem auf Spiegel Online veröffentlichten Artikel in eigener Sache ihren Lauf. Kurz darauf griffen zahlreiche deutsche, aber auch internationale Medien den aufsehenerregenden Fall in eigenen Berichten und feuilletonistischen Betrachtungen auf. Es folgten der Einsatz einer Aufklärungskommission, die Veröffentlichung von Juan Morenos Tatsachenroman „Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus“ und im vergangenen Jahr schließlich mit Michael „Bully“ Herbigs Komödie Tausend Zeilen die darauf basierende Verfilmung.

Nun stellt sich angesichts diverser öffentlicher Auseinandersetzungen mit dem Fall Relotius die Frage: Ist die Affäre, die gemeinhin als einer der größten Medienskandale der deutschen Nachkriegsgeschichte gilt, damit auserzählt und zur Genüge aufgearbeitet? Eine klare Antwort darauf liefert Daniel Sagers Dokumentarfilm Erfundene Wahrheit – Die Relotius Affäre nicht. Aber trotz eines Mangels an neuen Erkenntnissen verdeutlicht dieser Film, dass differenzierte Nachbetrachtungen zum Fall Relotius weiterhin sinnvoll und angebracht sind.

Zurück zur Grenzüberschreitung

Erfundene Wahrheit beginnt mit nächtlichen Aufnahmen von einem Mann, der am amerikanisch-mexikanischen Grenzübergang im US-Bundesstaat Arizona patrouilliert, sich eine Zigarette anzündet und in die dunkelblau gefärbte Landschaft blickt. Aus dem Off werden dazu Beginn und Ende von Claas Relotius‘ Spiegel-Reportage „Jaegers Grenze“ verlesen. Es ist der Text, der Co-Autor Juan Moreno zu einer fieberhaften Suche nach dem Wahrheitsgehalt hinter einigen unglaubwürdigen Behauptungen veranlassen sollte. Am Ende von Morenos Nachrecherche stand schließlich die bittere Erkenntnis, dass Relotius den „Jaeger“ genannten Protagonisten seiner Reportage, Tim Foley, niemals besucht und interviewt hatte. Und es ist ebenjener Tim Foley, der zu Beginn dieser Dokumentation als Teil einer Bürgerwehr bewaffnet durch die Nacht wandert, um Menschen an der illegalen Einwanderung zu hindern.

Protagonist in einer der gefälschten Reportagen: Tim Foley in „Erfundene Wahrheit – Die Relotius Affäre“. © Kinescope / Sky / Nicolai Mehring

Sechs von Relotius‘ weitgehend gefälschten Reportagen nimmt Erfundene Wahrheit insgesamt auf diese Weise in Augenschein: Daniel Sager (Hinter den Schlagzeilen) präsentiert ruhig eingefasste Aufnahmen von den Handlungsorten der Reportagen, die sich mit dem nüchtern verlesenen Reportagetext zusammenfügen und dabei mitunter sehr offensichtlich eine Text-Bild-Schere offenbaren. So fängt beispielsweise die Kamera das Ortseingangsschild der Kleinstadt Fergus Falls ein, das, anders als von Relotius in seiner Reportage „In einer kleinen Stadt“ beschrieben, nicht mit dem Spruch „Home of damn good folks“ („Heim verdammt guter Leute“) versehen ist. Anschließend offenbaren Gespräche mit Personen, die in diesen Reportagen beschrieben werden, sowie mit an der Recherche oder der Prüfung der jeweiligen Texte Beteiligten das gesamte Ausmaß des von Relotius Erdachten – und die anhaltende Irritation der von diesen publizierten Unwahrheiten Betroffenen.

Nachdenkliche Einordnungen

Dieser an Relotius‘ Reportagen orientierte Erzählstrang wird ergänzt durch Einordnungen von Medienschaffenden, die mittel- und unmittelbar mit Relotius‘ Lügen zu tun hatten. Steffen Klusmann, Chefredakteur des Spiegel, der seine Position 2018 erst wenige Monate vor der Enthüllung des Skandals angetreten hatte, erklärt seine damalige Situation: „Ich musste mich für etwas rechtfertigen, was vor meiner Zeit war.“ Auch Cordelia Freiwald, seit 1994 beim Spiegel und seit 2019 Leiterin der Dokumentation, findet deutliche Worte für den Fall, den sie als „Super-GAU“ für ihre Abteilung bezeichnet. Klusmann und Freiwald sind vonseiten des Spiegel auch die Einzigen, die in der Doku zu Wort kommen. 20 weitere ehemalige und aktuelle Spiegel-Redakteure habe man vergeblich angefragt, lässt der Abspann schließlich wissen. Dazu gehört auch Claas Relotius selbst, der hier lediglich in Archivaufnahmen von diversen Preisverleihungen zu sehen ist.

Spiegel-Chefredakteur Stefan Klusmann äußert sich in Stefan Sagers Dokumentarfilm zum Fälschungsskandal. © Kinescope / Sky / Nicolai Mehring.

Dementsprechend erhalten Gesprächspartner*innen in Erfundene Wahrheit Raum, die den Skandal aus der Distanz verfolgt (z.B. Wolfgang Krach, Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung), darüber eingehend berichtet (Stefan Niggemeier, Medienjournalist und Gründer von Übermedien) oder an dessen Enthüllung direkt mitgewirkt haben (Juan Moreno und der freiberufliche, um klare Worte nicht verlegene Fotograf Mirco Taliercio). Ihre Äußerungen und Einordnungen fügen sich in diesem Dokumentarfilm zum erläuternden Gerüst zusammen, das zwar keine neuen Erkenntnisse zum Fall an den Tag bringt, aber das Herzstück des Films stützt: die Reise zu den Menschen, die Relotius in seinen Reportagen beschrieben, aber in vielen Fällen gar nicht direkt gesprochen hatte.

Falsche Reportagen, echte Schicksale

So sitzt die Irritation bei Michele Anderson und Jake Krohn, die in Fergus Falls leben, weiterhin merklich tief. Relotius hatte die Kleinstadt in seiner Reportage als „typisch für das ländliche Amerika, das Trump zum Präsidenten machte“ beschrieben, Krohn zufolge aber nur bestehende Vorurteile bedient: „Die Wahrheit ist komplizierter und facettenreicher.“ Und Doug Becker, in der Reportage fälschlicherweise als Kohleschaufler bezeichnet, wüsste auch gern, wer diese von Relotius beschriebenen Menschen seien.

Besonders berührend wird es aber in Erfundene Wahrheit, als es um die Reportage „Löwenjungen“ von 2017 geht: Relotius schrieb darin über zwei Brüder, die im Alter von 12 und 13 Jahren vom IS verschleppt und mit Sprengstoffgürteln nach Kirkuk geschickt wurden. Einer der Jungen überlebte und Relotius behauptete, ihn im Dschamdschamal-Gefängnis im Irak besucht zu haben. Der kurdische Kameramann Syara Kareb erklärt in Sagers Film, wie er kurz nach Erscheinen der Reportage von Spiegel TV beauftragt wurde, selbst den Jungen zu finden. Kareb besuchte Mahmoud Ahmed im Gefängnis und beschreibt sein Mitleid mit dem inhaftierten Jungen, dem er im Gespräch gegenübersaß. An dieser Stelle zeichnet sich fühlbar die Realität der Schicksale hinter Relotius‘ Konstrukten ab. Denn, so stellte Kareb im April 2017 fest und meldete es auch an Spiegel TV, der vermeintliche Starreporter hatte Mahmoud nicht im Gefängnis gesprochen.

Bleibende Fragen

Weshalb es aber noch mehr als ein Jahr bis zur Enthüllung von Relotius‘ Fälschungen dauern sollte, ist eine zentrale Frage, die Erfundene Wahrheit zum Schluss aufwirft. Besonders kritisch wird hier auch die Arbeit der Aufklärungskommission beleuchtet, die im Mai 2019 einen Abschlussbericht vorlegte, in dem Claas Relotius als unabhängig agierender Einzeltäter ausgemacht wurde. An diesem Befund werden in Erfundene Wahrheit leise Zweifel wach, als Paul Milata, ein auf Betrugsfälle im Bereich der Wirtschaftskriminalität spezialisierter Ermittler, seine Sicht erklärt: So habe die Arbeit der vom Spiegel eingesetzten Aufklärungskommission keineswegs dem in solchen Fällen üblichen Vorgehen entsprochen, besonders angesichts offensichtlicher Interessenkonflikte.

Erfundene Wahrheit zeigt somit, dass über den Skandal um Claas Relotius zwar breit berichtet wurde, es aber noch einiger Erkenntnisse zur präzisen Einordnung bedarf. Dieser interessant und fernab von Sensationalismus aufbereitete Dokumentarfilm liefert durch seine intensive Auseinandersetzung mit den Themen einzelner Reportagen einen umfassenderen Eindruck von diesem Fall, der die deutsche Medienwelt nachhaltig aufgerüttelt hat. Es ist ein erster Schritt der Nachbetrachtung, dem hoffentlich noch weitere, ebenso sehens- und bemerkenswerte folgen werden.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV)

Erfundene Wahrheit – Die Relotius Affäre (seit 24. März 2023 auf Sky und beim Streamingdienst Wow zu sehen.)
Dokumentarfilm
Deutschland 2023. 93 Min.
Regie und Buch: Daniel Sager
Kamera: Nicolai Mehring

Die Autorin Dobrila Kontić hat Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften, Englische Philologie und Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin und Journalismus am Deutschen Journalistenkolleg (DJK) studiert. Sie arbeitet als freie Journalistin, Film- und Serienkritikerin in Berlin.

 

 

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